Kumpfmueller

Schreiben ist auch Fliegen

Ein Interview mit Michael Kumpfmüller über seinen neuen Roman „Ach, Virginia“

Michael Kumpfmüller, geboren 1961 in München, lebt als freier Autor in Berlin. 2000 legte er seinen ersten Roman „Hampels Fluchten“ vor. 2011 wurde „Die Herrlichkeit des Lebens“ zum Bestseller und von der literarischen Kritik hochgelobt. Zuletzt erschienen „Die Erziehung des Mannes“ (2016) und „Tage mit Ora“ (2018).

Nach Ihrem Bestseller „Die Herrlichkeit des Lebens“ über Kafkas letzte Liebe widmen Sie sich in Ihrem neuen Roman „Ach, Virginia“ erneut einem Schriftstellerleben, genauer gesagt einer Ikone des weiblichen Schreibens und Pionierin der literarischen Moderne. Was gab den Ausschlag für Ihre literarische Beschäftigung mit Virginia Woolf?
Schreiben heißt für mich: Mich an etwas reiben und es dann – so weit wie möglich – zu verstehen. Dass sich ein Mensch das Leben nimmt, ist ja weiß Gott eine empörende Tatsache; wir haben doch nur dieses eine. Virginia Woolf hat ein Leben lang über Selbstmord nachgedacht, mit ihm kokettiert und in Phasen der Düsternis nicht nur kokettiert, wobei sie meistens einen Tod im Wasser imaginierte. Auch beim Thema „Wahnsinn“ gibt es diese Ambivalenz: Sie hatte schwere Depressionen, betrachtete diese aber – sie kennt sich wirklich sehr gut – mit einer gehörigen Portion Skepsis. Tagebuch 1927: „Vermutlich ist meine Depression eine Form der Eitelkeit.“ Außerdem hat mich natürlich ihre Ehe mit Leonard Woolf fasziniert, die eine durchaus seltsame ist, eine Verbindung ohne Sexualität, mit sehr ungleich verteiltem Licht, wobei er als Mann zunehmend in die Rolle der Muse schlüpft, was ja üblicherweise als Geschäft der Frau angesehen wird.

„Ach, Virginia“ erinnert an ein Kammerspiel: Sie nähern sich Virginia Woolf in ihren dunkelsten Stunden, begleiten sie und ihren Mann Leonard durch die letzten zehn Tage ihres Lebens vor ihrem Freitod im März 1941. Sie tauchen dabei tief in die Seelenräume und Gedankenwelt der schwer depressiven Autorin ein, sind ihr nah, bisweilen sehr nah, ohne aber die Ich-Perspektive einzunehmen. Wie haben Sie diese Balance zwischen Einfühlung und Distanz gefunden?
Das, was Sie als Balance bezeichnen, ist im Detail ein hundertfaches Hin und Her, eine pulsierende Bewegung, die auch zu dem Titel geführt hat, der in der Hauptsache Ja, aber eben auch Nein sagt, was die Gedanken und Handlungen der Figur der Virginia betrifft. Virginia Woolf in meinem Roman ist ja eine Figur. Und eben darin besteht meine Liebe als Autor zu ihr, dass der Erzähler ihr treu und unbedingt folgt, aber nicht in allen Punkten. Das gilt für die wirkliche übrigens auch. Erst wenn ich meine Neins zum Anderen kenne und akzeptiere, bin ich in der Lage, in einer Art Güterabwägung ein haltbares Ja zu ihm zu entwickeln.

„Ach, Virginia“ ist aufgeteilt in die Kapitel „Zorn“ und „Zärtlichkeit“ - sind das für Sie die Eckpunkte dieser letzten Tage?
Der Roman ist ja so etwas wie das Protokoll eines Abschieds, einerseits vom Leben, andererseits von Leonard. Letzteres dürfte das viel Schwierigere gewesen sein. Deshalb kommt es in der ersten Phase zur Mobilisierung von zornigen Gefühlen, die dafür sorgen, dass der Andere (Leonard) erst mal als etwas Feindliches wegrückt. Aber damit ist es nicht getan. Ist man auf jemanden sehr wütend, unterhält man ja weiterhin eine sehr enge – negative – Beziehung zu ihm. Die Freiheit, Leonard und das Leben zu verlassen, entsteht in einem zweiten Schritt durch eine Haltung, die man als entrückte Zärtlichkeit bezeichnen könnte: Du bist mir lieb, ich schätze dich, trotzdem werde ich dich auf die denkbar grausamste Art verlassen.

Ihr Roman beginnt mit einem „Interkontinentalflug“ in das Leben Virginia Woolfs hinein, endet jedoch nicht mit deren Freitod, sondern schließt mit einem weiteren „Interkontinentalflug“ an der Seite Leonards in eine neuen Liebe, hinaus in die Welt. Ein Hoffnungsschimmer nach so viel Düsternis?
Das ist unbedingt so. Wer einen nahen Menschen durch Suizid verliert, hat ja nicht nur diesen Menschen verloren, sondern sein ganzes mit diesem Menschen verknüpftes Leben. Nach gut dreißig Jahren Ehe ist das keine Kleinigkeit. Und Leonard hat diesen Verlust – wie schön – überlebt. Aber das ist nicht alles. Hoffnung ist an dieser Stelle nicht das richtige Wort – aber die eigentliche Botschaft an den Leser, wenn es eine solche gibt, besteht darin, ihn daran zu erinnern, dass unser aller Innenraum, sagen wir: unsere Seele, eine unendlich vielfältige, bunte Landschaft ist, die zu erkunden eines der größten Abenteuer ist, das ich kenne. Und damit meine ich nicht nur die Keller, sondern Türen und Fenster, durch die Licht und Luft kommt, Dächer und Balkone, umgebende Gärten, und tatsächlich kann man das ja alles irgendwie betreten und sich erschließen.

„Schreiben ist Drecksarbeit, man macht sich schmutzig dabei, man schwitzt und bekleckert sich, bewegt sich in unerfüllten Räumen“, heißt es an einer Stelle des Romans. Ist das so für Sie?
Schreiben ist auch Fliegen, klar, aber in der Hauptsache ist es Arbeit, und längst nicht alles ist nett und einfach dabei. Man muss schmutzige Gedanken denken und die schwarzen Stellen in sich studieren, es ertragen, dass man zittert, hadert, verzweifelt. Womit ich nur sage, dass ich das alles liebe, weil ich auf diese Weise spüre, dass ich am Leben bin, ein Mensch, jemand, der sich bemüht, und mehr kann man ja bestenfalls über sich nicht sagen, als dass man sich bemüht hat.

Virginia Woolfs Gesamtwerk umfasst neben Romanen und Erzählungen auch Tagebücher, Briefe und eine Vielzahl von Essays. Welches Werk von Virginia Woolf hat Sie am meisten begeistert, welches würden Sie zur Lektüre für „Einsteiger“ empfehlen?
Ganz klar die Tagebücher. Virginia Woolf weiß wirklich sehr viel über sich – und zugleich überraschend wenig. Von den Romanen: „Mrs. Dalloway“ und „Jacobs Zimmer“.

Vielen Dank für das Gespräch!



Kumpfmüller

Michael Kumpfmüller
Ach, Virginia
Kiepenheuer & Witsch GmbH
Gebunden, 235 Seiten
ISBN 978-3-462-04921-3
Euro 22,– (D), Euro 22,70 (A)

Foto: Joachim Gern