
Das Lyrik Kabinett in München
Im Grunde wäre ich lieber Gedicht.
Was ist ein Name – Ana Luísa Amaral
Stiftung Lyrik Kabinett, Amalienstraße 83a, 80799 MünchenEine wahre Wunderkammer für Poesie aller Sprachen und Zeiten findet sich seit 2005 in einem Glasbau in einem verwunschenen Hinterhof der Münchener Amalienstraße. Das Lyrik Kabinett beherbergt hier mit rund 65.000 Medien die europaweit größte auf internationale Lyrik spezialisierte öffentliche Sammlung. 2019 konnte das Kabinett sein dreißigjähriges Jubiläum feiern. Seinen Ursprung hat es in der großen Lyrik-Leidenschaft seiner – im Januar dieses Jahres verstorbenen – Gründerin und Mäzenin Ursula Haeusgen und, ganz konkret, in den Beständen der 1989 von ihr eröffneten auf Lyrik spezialisierten Buchhandlung. 2003 zu einer gemeinnützigen Stiftung umgewandelt, hat dieses Haus für Gedichte heute internationale Strahlkraft und steht einem breiten Publikum offen: LyrikliebhaberInnen, StudentInnen, ÜbersetzerInnen, HerausgeberInnen und natürlich LyrikerInnen.
Anläßlich des Welttags der Poesie haben wir Dr. Holger Pils, seit 2014 Geschäftsführer und seit 2018 Vorstand der Stiftung, zu den vielfältigen Aktivitäten dieses besonderen Hauses befragt:
Lieber Herr Pils, beginnen wir mit einer grundsätzlichen Frage: Warum Lyrik? Bzw. wozu Lyrik heute? Die öffentliche Resonanz ist im Vergleich zum Roman oder populären Sachbuch ja nach wie vor eher gering.
Gedichte sind etwas Wunderbares. Sie können uns scheinbar vertraute Dinge plötzlich ganz neu sehen lassen, ja vielleicht den Blick auf die Welt verändern. Manchmal gelingt das mit einer einzigen, kleinen Beobachtung, die das Denken und die Wahrnehmung auf einen unbekannten Pfad führt. Zugleich ist das lyrische Sprechen nicht das alltägliche Sprechen, es sensibilisiert für den Reichtum eigener und fremder Sprachen. Natürlich können Gedichte auch Halt oder Trost geben und bei all dem großes Vergnügen bereiten. Und die Resonanz wächst. Die Auflagen sind viel niedriger als bei Romanen, Lyrik-Bände erscheinen auch in vielen kleinen Verlagen – aber es gibt dafür eine große Vielfalt von Schreibweisen, eine so große Vielzahl von aufregenden Lyrikerinnen und Lyrikern, wie vielleicht noch nie. Das spricht sich herum.
Ihr Haus ist multifunktional – zum Lyrik Kabinett gehören eine öffentliche Bibliothek, eine Bühne für Lesungen, Publikationen und die kreative Arbeit mit Kindern und Jugendlichen. Was verbindet all Ihre Aktivitäten bzw. wie verstehen Sie Ihren Auftrag?
Wir sind davon überzeugt, dass die Begegnung mit der Poesie eine bereichernde und beglückende Erfahrung ist – und zwar in jeder Form der Beschäftigung mit ihr. Deshalb versuchen wir, ein möglichst breites Angebot zu machen. In einem umfassenden Sinn geht es also darum, die Lyrik, ihre Verbreitung und ihr Verständnis der fördern. Und darum, die ganz unbegründete Scheu vor ihr zu nehmen.
Noch einmal zurück zum Kern des Hauses – welche Kostbarkeiten finden sich in den Beständen der Bibliothek?
Es gibt wertvolle Künstlerbücher, auch Unikate, Erstausgaben und Widmungsexemplare. Vor allem aber gibt es eine große Vielfalt an Büchern aus vielen Sprachen, Kulturen und Zeiten. Diese Vielfalt, die jedem offensteht, scheint mir das eigentlich Kostbare zu sein.
Seit 1989 hat das Lyrik Kabinett mehr als 1.300 Lyrik-Abende veranstaltet – wie wichtig ist das Hören, das Erleben von Poesie, was ja im letzten und auch in diesem Jahr nur sehr begrenzt möglich war?
Sehr wichtig! Lyrik ist auch Musik, das Gedicht ein Klangkunstwerk, das Hören ein ästhetisches Erlebnis. Das Hören von Lyrik ermöglicht häufig auch eine Art von intuitivem Verstehen; es ist keine rein intellektuelle Angelegenheit. Auch das Hören von Gedichten in anderen Sprachen ist ein Erlebnis. Daher sind die Lesungen wichtig. Das geht im Moment nur online; dafür sind viele unserer Lesungen mittlerweile auf dem Portal dichterlesen.net nachzuhören.
Sie beobachten die deutsche und internationale Lyrikszene – nicht nur mit Blick auf die Erweiterung der Bibliothek. Das Beste aus den jährlichen poetischen Neuerscheinungen auf dem Buchmarkt stellen Sie unter lyrik-empfeh-lungen.de vor. Wie erfolgt die Auswahl, wie sorgen Sie für Vielfalt?
Da das Feld der Lyrik-Veröffentlichungen eben facettenreich ist und wir verschiedene Zugänge ermöglichen wollen, bitten wir zehn sehr unterschiedliche Leserinnen und Leser, die jeweils einen guten Überblick haben, ganz unabhängig voneinander je zwei Bände vorzustellen. Sie berichten dann, welche neuen Gedichte ihnen besonders gefallen, was interessant, was aufregend an ihnen ist. Das erlaubt eine Orientierung auf der Basis ganz persönlicher Perspektiven und funktioniert sehr gut; ich entdecke selbst immer Überraschendes.
Zu Ihrem 30. Jubiläum 2019 haben Sie eine ganz wunderbare Anthologie der internationalen Gegenwartsliteratur herausgebracht – „Im Grund wäre ich lieber Gedicht“, das auch zahlreiche Gedichte in Erstveröffentlichung enthält. Gibt es einen weiteren Band, den Sie uns ans Herz legen möchten?
Ganz aktuell freue ich mich über den jüngsten Band unserer Edition Lyrik Kabinett. In diesem Frühjahr erscheinen dort Gedichte von Ana Luísa Amaral, einer der ganz großen Dichterinnen Portugals, hierzulande bislang fast unbekannt. Es sind klare, schöne Gedichte über die großen Lebensfragen, die sich am kleinsten Detail entzünden können und über das Dichten selbst – ganz wunderbar und unbedingt zu empfehlen. Und es lohnt natürlich der Blick in die erwähnten Lyrik-Empfehlungen.
Vielen Dank für das Gespräch!
Literaturhinweise
Drei Jahrzehnte Poesie. Eine Anthologie.
Herausgegeben von Michael Krüger
und Holger Pils
Hanser Verlag
Hardcover, 432 Seiten
ISBN 978-3-446-26585-1
Euro 30,– (D), Euro 30,90 (A)
Aus dem Portugiesischen
von Michael Kegler und Piero Salabè
Hanser Verlag
Hardcover, 112 Seiten
ISBN 978-3-446-26912-5
Euro 20,– (D), Euro 20,60 (A)
www.lyrik-kabinett.de
Aktuelle Veranstaltungen finden Sie unter:
www.lyrik-kabinett.de/veranstaltungen