Medizin auf Augenhöhe ist das, was ich mir Wünsche

Turbo-Behandlungen, datenorientierte Medizin, mangelnde Gesundheitsbildung- und förderung: In seinem neuen Buch schildert der Autor und Mediziner Prof. Dr. Dietrich Grönemeyer, was es in einer gesunden und modernen Gesellschaft bedarf, um ein effizientes, ausgewogenes und vor allem menschliches Gesundheitssystem zu etablieren. Vor Kurzem sprach er mit uns über Erlebnisse und Erfahrungen.



Können Sie kurz umreißen, um was es in Ihrem neuen Buch geht?
Der Titel fasst es wirklich gut zusammen: »Medizin verändern. Heilung braucht Zuwendung, Vertrauen und Mut zu neuen Wegen.« Genau darum geht es mir, Wege aufzuzeigen, um zu einer Medizin zu kommen, der die Menschen vertrauen. Sich dem Kranken als Arzt auf Augenhöhe zuzuwenden, Angst zu nehmen, aufzuklären, zuzuhören und verständlich zu reden, das halte ich nach wie vor für eine der wichtigsten Voraussetzungen jeder erfolgreichen Therapie. Das Ziel ist eine würdevolle Heilkunst zwischen Hightech und Naturheilkunde, zwischen Psychosomatik und Umweltmedizin. Um dies zu erreichen, durchleuchte ich in meinem Buch große Teile des Gesundheitswesens und zeige praktikable Lösungen zu einer Neuorganisation auf. Ich verbinde dies mit persönlichen Erlebnissen und Erfahrungen aus verschiedenen Lebenssituationen – als kleiner Junge, als Student, als junger Arzt, als Wissenschaftler und Mediziner –, um der Leserin und dem Leser zu schildern, was mich geprägt hat, warum ich mich für diese Positionen einsetze – warum mir dies ein so großes Anliegen ist.

An wen richtet sich Ihr Buch?
Ich habe keine besondere »Zielgruppe« vor Auge. Das Buch richtet sich an die Menschen, denen die eigene Gesundheit wichtig ist und denen es nicht gleichgültig ist, wie wir unser Gesundheitssystem organisieren, also die Art und Weise, mit der wir mit Menschen, die unsere Hilfe benötigen, umgehen. Der Patient oder die Patientin als Mensch und Dialogpartner des Arztes findet in der modernen, immer unpersönlicher werdenden und zunehmend »datenorientierten« Medizin immer weniger Beachtung. Ich möchte mit diesem Buch Denkanstöße geben. Die richten sie sowohl an die etablierten Stellen in der Medizin, der Politik, der Wissenschaft, der Gesundheitsverwaltung, als auch an alle, die sich für eine Medizin des Wohlbefindens, eine Reform des Gesundheitswesens einsetzen. Das Buch ist eine Einladung zu einer Diskussion über ein Thema, das zu den größten und wichtigsten in unserer Gesellschaft gehört. Darüber lohnt es sich zu diskutieren, nachzudenken und, ja, auch zu streiten.

Sie beschreiben einen Prozess, der sich über Jahrzehnte eingeschlichen hat. Wo muss man ansetzen, um dem entgegenzuwirken?
Im allgemeinen Medizinbetrieb werden wir Menschen viel zu oft wie seelenlose Materie, wie »Kopiermaschinen« und nicht als Individuen behandelt. Der heutige Medizinbetrieb ist straff ökonomisch geprägt und durchorganisiert. Zuwendung, psychosomatisch-sozial orientierte Gespräche und persönliche Untersuchungen des Körpers, ein vorsichtiger Behandlungsbeginn mit Hausmitteln oder Naturmedizin, die eine begleitende Behandlung des Arztes erfordern würden, kommen viel zu kurz. Wir alle müssen deshalb über den Tellerrand unserer eigenen Profession hinausschauen. Wenn uns etwas an einer Reform des Gesundheitsystems liegt, müssen wir bereit sein zur Zusammenarbeit. So wie bisher kann es jedenfalls nicht weitergehen. Sehr viele Milliarden Euro müssten – neben der dringend notwendigen Revitalisierung der Pflege – kontinuierlich in Ausbildung, Digitalisierung, Telemedizin zur Vernetzung der Berufsgruppen und in die Optimierung interdisziplinärer Behandlungsabläufe investiert werden, in Vorsorge und Gesundheitsförderung, Gesundheitsbildung sowie Aus- und Fortbildung. Und wir müssten sofort damit beginnen.

Hat die Coronapandemie Ihre Sicht auf die die medizinische Versorgung in Deutschland verändert? Wenn ja, inwieweit?
Verändert hat sie meine Sicht nicht. Schon eher bestärkt in der Ansicht, dass wir das System erneuern müssen. Schauen wir doch mal auf die Pflegerinnen und Pfleger und ihr bemerkenswertes Engagement. Besonders in einer solchen Extremsituation wie der Corona-Pandemie, aber natürlich auch im ganz »normalen« Arbeitsalltag. Die Anerkennung ihrer Leistung muss nachhaltiger werden und durch sofort spürbare Maßnahmen auch tatsächlich ankommen. Nur so wird es gelingen, Begeisterung für den Pflegeberuf zu erzeugen und genügend Arbeitskräfte zu gewinnen. Ich habe in Corona-Zeiten empfohlen, als Zeichen generellen öffentlichen Danks, Pflegerinnen und Pflegern die Lohnsteuer zu erlassen und Brutto für Netto auszuzahlen – zumindest vorübergehend, um danach neue wertschätzende Tarife zu schaffen. Ein solches Zeichen ist längst überfällig. Auch die Weiterentwicklung der Pflege- und Assistenzberufe zu neuen therapeutischen Berufsbildern, die dringend im Krankenhaus genauso wie auf dem Land benötigt werden, gehört dazu. Corona könnte uns aber in einigen Bereichen auch aus dem Dornröschenschlaf erweckt haben. Die Pandemie sollte uns gelehrt haben, uns für die Zukunft digital besser aufzustellen. Niemand glaubt, dass Corona die letzte aller bösen Überraschungen einer Natur war, die stets ihr eigenes Ding macht. Vielmehr sind wir gehalten, uns zu wappnen für weitere solcher Extremfälle. Dazu gehört auch, dass wir in die Medizin investieren. Ganz entschieden plädiere ich dafür, endlich die Investitionen im Gesundheitssystem nicht mehr in erster Linie unter dem Aspekt von unrentablen Kosten zu begreifen, sondern neben dem medizinischen auch den damit verbundenen mitmenschlichen, kulturellen und auch volkswirtschaftlichen Nutzen in den Vordergrund zu stellen. Investitionen in Gesundheit und Wohlbefinden sind doch Investitionen in die Entwicklung der Gesellschaft.

Welchen Part spielen Krankenkassen bei der »Abfertigung« der Patient:innen?
Krankenkassen gehören zu unserem Gesundheitssystem und können deshalb nur genauso gut oder schlecht handeln, wie das System selbst ist. Wir müssen uns generell darüber verständigen, wieviel uns pflegerische Leistung, Gespräche mit Patienten und Patientinnen, Zuwendung und sprechende und erklärende Medizin wert sind. Glauben wir der Statistik, reden Arzt und Patient pro Konsultation im ambulanten Bereich gerade noch zwei Minuten miteinander. Nach weiteren fünf Minuten technischer Untersuchung ist der Arztbesuch beendet. Rund 80 Prozent aller Patienten wissen nach dieser Turbo-Behandlung nicht wirklich, woran sie erkrankt sind. Das ist Ergebnis des immer mehr vorangetriebenen Wettbewerbs. Im Krankenkassenbereich, bei den niedergelassenen Ärzten und bei den Krankenhäusern gewinnt der Wettbewerb inzwischen in einer durchaus bedrohlichen Form an Bedeutung. Und unter dem Druck von Einnahmenoptimierung einerseits und Kostenoptimierung andererseits sind wir auch in den Pflegenotstand geraten. Bis zum Jahr 2035 wird sich die Versorgungslücke im Pflegebereich auf 500 000 Fachkräfte erhöht haben. Der Staat wird die Kosten für die Pflege nicht decken. Daher sind neue Versicherungsmöglichkeiten notwendig wie eine Pflegeversicherung als Zusatz. Ich halte im Übrigen das Vorhandensein zweier »Klassen«, also der gesetzlichen und der privaten Krankenversicherung, nicht für das größte Problem: Nicht das müssen wir ändern, sondern das Beste daraus machen und neue Möglichkeiten schaffen. In diesem Sinne plädiere ich für die – wie ich sie vor einigen Jahren bereits genannt habe – »Priva-Setzliche« Versicherung. Das heißt: gesetzlich grundversichert und privat zusatzversichert.

Was raten Sie Patient:innen, bevor sie einen Arzt:in aussuchen? Wie findet man den richtige Arzt:in?
Ich habe da einen generellen Ratschlag: Wenn Du zum Arzt oder zur Ärztin gehst, schreibe Dir vorher drei Fragen auf, die Du von ihm oder ihr beantwortet haben willst. Wichtig ist, dass Patienten und Patientinnen sich bei »ihrem« Arzt, »ihrer« Ärztin menschlich wie fachlich gut aufgehoben, respektiert und liebevoll fürsorglich »behandelt« fühlen. Was mir wichtig ist: Heilen ist etwas anderes als Reparieren. Jedem steht seine eigene Gesundheit zu, jeder Mensch definiert seine Normalität anders. Das müssen wir respektieren. Gesundheit ist eine Sache persönlicher Haltung und des individuellen Empfindens. Als Ärzte müssen wir lernen, dass die Freiheit der Entscheidung beim individuellen Patienten oder der Patientin liegt. Hier ist ein Mentalitätswandel dringend erforderlich. Und als Patienten müssen wir lernen, für uns selbst einzutreten, Entscheidungen für uns selbst zu treffen, auch wenn sie für die Gegenseite unbequem sein sollten. Auch hier ist ein Sinneswandel vonnöten, da die meisten Patienten gelernt haben: »Der Arzt hat immer recht.« Eine »Medizin auf Augenhöhe« ist das, was ich mir wünsche.

Wieviel Zeit sollte sich Ihrer Meinung nach ein Arzt:in mit einem Patient:in nehmen?
Soviel Zeit, wie es für die individuelle Behandlung braucht. Doch grundsätzlich gilt für mich: Mindestens eine halbe Stunde, lieber mehr, für das erste Kennenlernen, um die Basis für Vertrauen zu legen. Worauf kommt es denn an? Es gilt grundsätzlich, die individuelle Erkrankung und das Wesen des Patienten zu erfassen und, wenn möglich, eine auf ihn persönlich abgestimmte Behandlungsmethode zu finden, gleich welcher Schule. Jeder möchte anders behandelt werden. Der eine will in den Arm genommen werden, die andere eine klare Ansage bekommen. Es gibt aber kein DIN-Format für die konkrete individuelle Therapie. In diesem Zusammenhang setze ich mich für eine Renaissance des Systems der Hausärzte und -ärztinnen ein. Sie sind die Gesundheitsmanager und medizinischen Co-Pipiloten der Menschen. Sie sind Familienärzte, Vertrauensärzte, persönliche Kenner und Kümmerer. Und zukünftig auch noch Präventologen. Den Hausärzten gehört unser Vertrauen, weil wir sie kennen, weil wir wissen, dass sie uns kennen, nicht nur mit der Krankengeschichte, sondern auch mit unserer persönlichen Lebensführung, den familiären und sozialen Verhältnissen.

Sind wir als Gesellschaft gesundheitlich gut aufgeklärt und wenn nein, warum nicht?
Es fehlt uns als Gesellschaft an guter gesundheitlicher Aufklärung, auch das hat uns die Corona-Pandemie deutlich gezeigt. Ein solches gesundheitliches Grundwissen kann sich jeder aneignen, vorausgesetzt, ihm werden die nötigen Bildungsangebote überhaupt gemacht. Tatsächlich geschieht in dieser Hinsicht wenig, und vor allem ohne den nötigen Nachdruck. Männer, Frauen und Kinder, Jüngere wie Ältere, müssen tatsächlich herausgefordert werden, sich schlauer zu machen. Denn nur durch eine so verstandene Eigenverantwortung aus Wissen und Selbstverpflichtung lassen sich nachhaltige Erfolge bei der persönlichen Gestaltung eines gesunden Lebens erzielen. Auf diese Weise würden auch Kosten für die Solidargemeinschaft eingespart. Es muss in Gesundheitsbildung und Gesundheitsförderung investiert werden. Es stimmt aber auch: Eigenverantwortung ist das Schlüsselwort für eine individuelle Lebensgestaltung, für individuelles Wohlbefinden mit langer körperlicher und psychischer Kraft, in einem prosperierenden Wirtschaftsland. Dazu bedarf es freilich auch einer Bereitschaft zur Selbstverantwortung – und der entsprechenden Angebote. Deshalb fordere ich auch: Von klein auf Gesundheit lernen. Es ist überfällig, den Gesundheitsunterricht an den Schulen einzuführen, ebenso wie ein Stunde Sport an jedem Tag. Dies nicht als Wahlmöglichkeit, nicht als Inselthema, versteckt im Lehrplan oder aufgeteilt auf verschieden Fächer, sondern obligatorisch und schon ab der Grundschule.

Wo muss die Gesellschaft ansetzen?
Wir müssen und darauf konzentrieren, was uns wichtig ist. Gesundheit ist nicht die Abwesenheit von Krankheit und wird nicht durch das bloße Abstellen von Krankheitssymptomen erlangt. Gesundheit ist vielmehr als lebenslanger, dynamischer Prozess, um den sich der einzelne Mensch, die Wissenschaft und die Gesellschaft, gegebenenfalls unter Mithilfe der Medizin und des Arztes, immer wieder bemühen müssen. In unserem heutigen Versorgungssystem fehlt aus meiner Sicht zwischen Hausarzt, niedergelassenen Fachärzten und Krankenhaus ein wesentliches Element: Organspezifische Therapiezentren, in denen Spezialisten verschiedener Disziplinen im Team zusammenarbeiten. Der Medizin gehört die Zukunft. Es ist erkennbar, dass der Bedarf an konventionellen und innovativen medizinischen Produkten, Pharmazeutika und Dienstleistungen steigen wird, insbesondere in Zeiten des demographischen Wandels. Und: Spitzenmedizin braucht Spitzenforschung und Investoren, die mit Wagniskapital neben staatlichen Mitteln und der Industrie die kleinen und großen Unternehmen im Gesundheitswesen unterstützen. Auch diejenigen, die wie die Naturheilkunde und Psychosomatik und ökologische Medizin, die bisher als Mauerblümchen behandelt wurden. Zum Wohle der Patienten und zum Wohle der hochengagierten Berufstätigen, die alle zusammen Großartiges für die Zukunft der Medizin leisten können und wollen.

Vielen Dank für das Gespräch.





Medizin verändern – Heilung braucht Zuwendung, Vertrauen und Mut zu neuen Wegen
Prof. Dr. Dietrich Grönemeyer
Ludwig Verlag
Gebunden, 288 Seiten
978-3-453-28156-1
€ 22,-