
Südtirol
Der letzte Minnesänger
Über den Brenner geht es hinein in eine Landschaft zweier Sprachen, nach Südtirol oder Alto Adige (Hoch-Etsch). Die ländliche Bevölkerung der 520.000 Einwohner in der heutigen italienischen Provinz Bozen spricht deutsch, in den größeren Städten wie Bozen, Meran und Brixen herrscht Italienisch vor. „Sie hießen in manchen Urkunden delle Catene und in andern Herren von Ketten; sie waren aus dem Norden gekommen und hatten vor der Schwelle des Südens halt gemacht; sie gebrauchten ihre deutsche oder welsche Zugehörigkeit, wie es der Vorteil gebot, und fühlten sich nirgends hingehören als zu sich.“ So beginnt Robert Musils Erzählung „Die Portugiesin“ (1923). Doch schon die 400 Jahre der österreichischen Herrschaft seit Kaiser Maximilian I. von 1500 bis zur Übergabe des als „Welschtirol“ bis zum Gardasee reichenden Gebietes 1919 an Italien waren sprachlich offen und wechselhaft. Den besten Beweis dafür liefert der ‚letzte Minnesänger‘ Oswald von Wolkenstein, dessen bewegtes Leben ihn zu einem Weltreisenden wider Willen machte, so dass er genauso gut als einer der ‚ersten Europäer‘ bezeichnet werden könnte. Dabei ist es kaum wichtig, wo genau er, vermutlich 1377, zur Welt gekommen ist, in Säben, Trostburg, Wolkenstein oder Schöneck (wobei es am wahrscheinlichsten die Burg Schöneck über Pfalzen/Valzes gewesen ist). Am genauesten und intensivsten informiert darüber Dieter Kühn in seiner grandiosen Biographie „Ich Wolkenstein“ (1977). Eine einzigartige Reise durch Raum und Zeit ist dieses Buch, nebenbei eine Neuerfindung der Biographie als, wie der Autor schreibt, „großes Facettenauge“ aus verschiedensten Blickwinkeln. Dazu werden mit dichterischer Einfühlung die mittelalterlichen Texte Oswalds in unsere Sprache stimmig und verständlich übertragen. Zwar hat die Tatsache, dass menschliche Knochen, die 1977 in der Basilika von Neustift gefunden wurden, sehr wahrscheinlich die des 1445 verstorbenen Oswald sind, bei weitem nicht das Aufsehen erregt, das 1991 mit dem Auffinden und dem Rätselraten um den 5000 Jahre alten Bergwanderer ‚Ötzi‘ einherging; doch der drastische Gesang des Oswald vom gevögelten „Beerenmädchen“ ist noch heute zu hören:
„Ihr roter Mund, ihr edler Schlund
ist innen wahrhaft zuckersüß!
Die Füße klein, die Beine hell,
die Brüste fest. Doch was sie sagt
und tut, ist reichlich berglerisch!“
Ich bin benannt Herr Thomas Mann
Als Minnesänger hat sich in Südtirol auch Thomas Mann verlauten lassen, allerdings mehr selbstparodistisch anlässlich eines Kuraufenthalts im Sommer 1901 im Sanatorium Mitterbad im Ultental bei Meran. In Mitterbad und in Riva am Gardasee hatte der Wiener Arzt Dr. Christoph von Hartungen jeweils ein Reformsanatorium eingerichtet. Thomas Mann und sein Bruder Heinrich wurden dort von den Segnungen einer gesunden Lebensweise mit ausgedehnten „Terrainkuren“ (Spaziergängen) überzeugt. Mitterbad mit seinem Arsen-Eisenwasser lag damals so abgelegen wie heute, und die Anreise auf einer „Art Schlachtroß (…) mit dem Temperament eines Faultiers und den Launen eines unausgeschlafenen Esels“, gestaltete sich für Thomas Mann eher mühsam. Doch die Tage scheinen erholsam gewesen zu sein, wie einem längeren Gedicht zu entnehmen ist, das sich in einem Notizbuch findet und wohl für einen Eintrag ins Gästebuch gedacht war. Am Ende heißt es dort:
„Der Aufenthalt in Mitterbad
Ist Jedem zu empfehlen;
Mich hat er gelabt und frisch gestärkt
Den Leib und auch die Seelen.
Nun geht es an ein Lebewohl,
Mir wird wohl weh und bange.
Ich bin benannt Herr Thomas Mann
Und weiß ein Theil vom Sange.“
Heute ist Mitterbad mit seinen einstigen Badeanlagen ganz verfallen; drei rührende Gedenktafeln weisen seit 1990 und 1998 darauf hin, dass hier nicht nur Otto von Bismarck und Kaiserin Elisabeth von Österreich, sondern auch „zwei große Schriftsteller“ „Badaufenthalte“ verbracht haben; der „Verein der Bücherwürmer Lana“ bekundet:
„In diesem
Haus – Mitterbad – verbrachten
Thomas und Heinrich Mann
Im Jahre 1901 einen langen Sommer“.
Über Verfall und Untergang erhebt sich die siegende Idealität der Erinnerung!
Ezra Pound auf der Brunnenburg
Das schönste und zugleich versteckteste Dichtermuseum in Südtirol befindet sich gegenüber dem Dorf Tirol unterhalb von Schloss Tirol in der Brunnenburg. Einst der Sitz des Minnesängers Johann von Bopfingen und um 1900 historisierend umgebaut, hat hier der amerikanische Dichter Ezra Pound (1885 – 1972) drei Jahre, von 1958 bis 1961, im Kreis der Familie seiner Tochter und seines Schwiegersohns, des Ägyptologen Boris Graf von Rachewiltz gelebt. An diesem Ort laden heute zwei große Räume zu einem längeren Besuch ein. Zwischen Kunstwerken aus aller Welt, Büchern in Vitrinen, Reliquien und Kunstwerken geht der Blick hoch zu einer Galerie mit einem Tigerfell und weiteren Bücherreihen. Es ist das Atelier eines Schamanen, und tatsächlich kommt einem der einstige Bewohner dieser Räume sogar in einem Film der BBC von 1958 aus einem kleinen Videogerät entgegen. „You can’t have literature without curiosity“, sagt er da, schlägt den gelben Schal mit chinesischen Schriftzeichen um den Hals und geht auf den Söller, um der Kamera den Blick auf „das Landl“ zu weisen. Der Schal liegt jetzt in einer Vitrine. Ezra Pound hat als Vermittler und Förderer englischsprachiger Dichter wie William Butler Yeats, James Joyce und Ernest Hemingway ein mindestens ebenso bleibendes Verdienst wie durch seine lebenslange Beschäftigung mit der Poesie als einer universalen Sprache.
Seine an Dantes „Divina Commedia“ orientierten „Cantos“, ein in über 100 Teilen verfasstes Weltgedicht mit chinesischen, griechischen, lateinischen, französischen, deutschen und anderen Einsprengseln, gehen über alles Gewohnte und Bekannte weit hinaus. Der Autor, der sich im faschistischen Italien durch Radioreden gegen Amerika hervortat, wurde nach dem Krieg in Pisa auf grausame Weise interniert und zuletzt in Amerika für geisteskrank erklärt; Ergebnis dieser Zeit sind seine „Pisan Cantos“. Nach 13 Jahren aus der Anstalt entlassen, kam er nach Südtirol; drei Jahre später siedelte er nach Milano über. Er starb in Venedig und ist auf dem Friedhof San Michele bestattet. Der studierte Romanist hat Wort und Weisen („Motz el son“, 1957) auch der Minnesänger gut gekannt. Den Dichter-Novizen riet er, die alten Sprachen auf ihren Rhythmus hin immer und immer wieder zu lesen, um ihre Musik herauszuhören. Er selbst konnte mit einem Dreizeiler „IN A STATION OF THE METRO“ das west-östliche Lebensgefühl einzigartig verdichten und wie nebenbei eine zeitlose Weisheit im Shakespeare-Ton vermitteln: „What thou lovest well remains, the rest is dross“ (Canto LXXXI).
Eine Rose für Herbert Rosendorfer
Dichter lieben Masken. Herbert Rosendorfer (1934 – 2012), geboren in Bozen, seit 1997 wohnhaft in Eppan, war als Jurist ebenso seriös wie als Autor erfolgreich. Die seit 1966 publizierten Romane, Erzählungen, Theaterstücke, Fernsehspiele, Reiseführer, Libretti, Musikessays (mit der besonderen Vorliebe für Richard Wagner) finden neben eigenen Kompositionen und Gemälden nicht Ihresgleichen. Schaut man sich dieses Opus an, so ist der Begriff phantastisch angebracht, phantastisch die Fülle, phantastisch das Sujet, phantastisch aber vor allem der Erfolg, allen voran die „Briefe in die chinesische Vergangenheit“ (1983), die auch eine Reise in die bayerische Gegenwart sind. Außerdem lässt sich bei Rosendorfer besonders gut erkennen, wie nahe sich das Phantastische und die Satire sind, wenn die beiden Textsorten komplizenhaft ins Sarkastische abdriften. Herbert Rosendorfer war der seltene Fall eines Dichters, der eine ganze Lesung nur mit den Titeln seiner Bücher hätte bestreiten können. In einem Bozener Café lag unlängst auf einem runden Marmortisch neben einer kleinen Rose eine aufklappbare Speisekarte, und darin fand sich eine vergessene Handschrift Rosendorfers, ein Gedicht nur aus Titeln seines Autors:
Gedicht für Berlin oder Mitteilungen aus dem poetischen Chaos
Der Ruinenbaumeister trifft den stillgelegten Menschen: Scheiblgrieß.
Wie denkst Du über das Küssen der Erde?
Sind die Herbstlichen Verwandlungen auch ein Großes Solo für Anton?
Schlägt auch bei Dir ein Messingherz?
Wie war es im Zwergenschloss, und lachtest auch Du über
den Traum des Intendanten? Wer kommt da zur Tür herein?
Die bayerische Götterdämmerung namens König Ludwig II.?
Nein, es ist eine Erscheinung im Weißen Hotel: Der ewige Wagner,
der fröhliche Heide, der gestrandete Holländer, der Gnadenbrotbäcker:
Der Mann mit den goldenen Ohren.
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