sibylle berg

Sibylle Berg zählt zu den bekanntesten zeitgenössischen Schriftstellerinnen und Dramatikerinnen im deutschsprachigen Raum. Ihre preisgekrönten Theaterstücke und Bücher wurden in 34 Sprachen übersetzt. Zudem ist sie für den Spiegel als Kolumnistin tätig. Neulich nahm sich die Autorin Zeit mit uns über ihren neuen Roman RCE zu sprechen.



Sybille Berg Liebe Sibylle Berg, wären Sie Buchhändlerin – wem würden Sie Ihr neues Buch empfehlen?
Ohne Reihenfolge: Nerds, HackerInnen, Leuten, die GRM mochten, allen Menschen, die gerne über die Zeit, in der wir leben, lesen, allen Menschen, die sich fragen, wie sie den gefühlten Untergang der Welt begegnen können, LeserInnen, die Hoffnung suchen, Menschen, die eine Zusammenfassung dessen suchen, was gerade schief läuft. Leuten, die sich fragen, warum die Mieten immer weiter steigen, warum ihre Arbeit nichts mehr wert scheint, die sich fragen, wie es dazu kommen konnte, dass sich die Gesellschaften gerade so spalten (lassen), und wie es passieren konnte, dass es immer weniger Fluchtpunkte für eine Wiederherstellung der guten Laune gibt. Menschen, die Angst vor dem Klimawandel und dem Ende der Ressourcen haben, Menschen, die Kriege und Ungerechtigkeit hassen.

Es wird schnell klar, dass „RCE“ und „GRM“ zusammenhängen. Könnten Sie die Verbindung hier einmal kurz erläutern? Und empfehlen Sie die Lektüre von „RCE“ auch ohne die vorherige von „GRM“?
Bei aller gegebenen Bescheidenheit würde ich sagen – die Verbindung von GRM und RCE funktioniert wie ein Schweizer Uhrwerk. Spaß beiseite. Die theoretische Verbindung ist, dass GRM die englische Bevölkerung stellvertretend für die alle Gesellschaften der westlichen Welt in einer hoffnungslosen Aphasie zurückgelassen hat. Man hat sich mit der Verschlechterung der Lebensbedingungen ebenso arrangiert wie mit dem Umstand der Überwachung, der Einkommensungerechtigkeit, dem Kapital im Besitz weniger, das ständig wundersam wächst. RCE dagegen denkt darüber nach, wie eine Gerechtigkeit für alle hergestellt werden könnte, die es noch nie gab. Es geht um den Versuch, den trudelnden Untergang durch Kriege, Dürren, Nahrungsüberfluss und Knappheit aufzuhalten. Die sogenannten Freunde – eine Gruppe junger HackerInnen, die in GRM Nebenfiguren waren –, werden in hier Hauptfiguren, aber auch weitere alte Bekannte aus Teil 1 tauchen wieder auf. (Aber die beiden Teile funktionieren problemlos als eigenständige Werke. Hoffe ich.)

Freak – Dieser Begriff ist bei Ihnen ja absolut positiv besetzt, da damit Menschen gemeint sind, die sich nicht an die Erwartungen anderer halten. Würden Sie sich selbst auch als Freak bezeichnen?
Ja. Unbedingt. Wobei das auch ein wenig egal ist, wie ich mich bezeichne, denn dafür gibt es keine Auszeichnung. Freaks sind, wie Sie richtig sagen, in meiner Welt Außenseiter, Randgruppen, Menschen, die nicht an Systeme glauben. Protagonist*innen von „RCE“ sind eine Gruppe junger Erwachsener, „die Freunde“, die nicht der „Norm“ entsprechen. Wie viel von Ihnen steckt in Ben, Rachel, Maggy, Kemal und Pjotr? Bis auf die Codefähigkeiten, über die ich leider nicht verfüge, habe ich sicher von allen ein wenig, oder es ist mir vertraut. Z.B. das Gefühl des Größenwahnes – sprich: zu glauben, mehr zu wissen als viele andere Menschen –, der für den Zeitraum, in der eine Kunst entsteht, unabdingbar ist. Zum Glück geht das wieder vorbei, und ich weiß, dass ich von kaum etwas eine Ahnung habe. Ansonsten finde ich mich ebenso wenig wie einige der Freunde in Geschlechterzuschreibungen wieder – aber ansonsten ist es eben ein Buch. Eine Fiktion.

Die Gruppe von Nerds lebt in einer „Utopie einer besseren Welt“. Haben Sie auch eine Utopie einer besseren Welt? Und wie sieht diese aus? Achtung: Spoiler! Das beschreibe ich in Teil 3 der Reihe.
„RCE“ ist keine leichte Kost: zynisch, brutal, düster, deprimierend. Hatten Sie eine Art Ausgleich während des Schreibens? Oder brauchten Sie das nicht? Naja, ich fand es vor allem interessant, viele Fakten zu finden, die wirklich deprimierend sind. Ob es um Umweltzerstörung für Profit ist, Steuervermeidung durch Stiftungen, Verbrechen an der Gesellschaft oder Lobbyismus und die Beeinflussung der Gesetzschreibung sind. Ich habe vieles gelernt, und ich hoffe, die LeserInnen kennen nicht schon all die Ungerechtigkeiten und Anmaßungen, über die ich schreibe.

In Ihrer SPIEGEL-Kolumne haben Sie Ende letzten Jahres dazu aufgerufen, nicht wütend zu sein und freundlich zu bleiben – damals war das auf die Corona-Pandemie bezogen. Wie leicht bzw. schwer fällt es Ihnen, das persönlich umzusetzen?
Dieser naive Wunsch bezieht sich auf den Umgang miteinander, egal in welcher Krise wir uns gerade befinden. Man sollte versuchen, allen so zu begegnen, wie man es sich für sich selber wünscht. Ich versuche das wirklich, es gelingt nicht immer. Wenn Sie jemals angebrüllt wurden, wissen sie, wie wenig dialogfördernd das ist. Und im Moment – oder sagen wir: seit einigen Jahren – brüllen sich die Menschen scheinbar ständig an. Der Unruhe in der Welt geschuldet, dem Gefühl des Untergangs geschuldet, der Ohnmacht sei Dank.

Vieles in „RCE“ spielt sich online ab. Hier finden der codebasierte Widerstand und die Mobilisierung der Massen durch die Freunde statt. Auch Sie sind online in den sozialen Medien sehr präsent. Was bedeutet das für Sie?
Die sozialen Medien bedeuten mir: nichts. Sie sind zum größtenteils ein Ort des ungebremsten Hasses, des Rechthabens, der Menschenverachtung und des – Brüllens geworden. Meist algorithmengetrieben, tragen die sozialen Medien einen großen Teil der Schuld am Hass der Menschen aufeinander. Und ich will das wissen. Ich will begreifen, wie Manipulation funktioniert, wie sich Hass aufbaut. Und ich will wissen, wie man neue Wege finden könnte, die positiven Aspekte der soziale Medien – die Vernetzung von Leuten, der schnelle freie Informationsaustausch, für Prominente: die Hoheit über das eigenen Bild; die Möglichkeit, mit anderen Positionen in Kontakt zu kommen – zu stärken. Am Ende wird es darum gehen, all das den Konzernen und den Algorithmen wieder aus den Händen zu nehmen, die nur Hass und damit Verweildauer befeuern.

Zuletzt eine Frage, die bestimmt viele interessiert: Wird es eine Fortsetzung von „RCE“ geben? Werden die Leser*innen erfahren, wie es in der neuen Welt weitergeht?
Ja, das wird es. Fast alle Bücher und Texte, die ich von ÖkonomiekritikerInnnen, von UmweltschützerInnen, WissenschaftlerInnen gelesen habe, enden mit der Feststellung, dass etwas gewaltig schief läuft in den meisten Systemen. Wie es besser gehen könnte, verraten die wenigsten. Das ist eine Herausforderung.

Vielen Dank für das Gespräch!



Strömung

RCM
Sibylle Berg
Kiepenheuer & Witsch GmbH
Hardcover, 704 Seiten
ISBN 978-3-4620-0164-8
Euro 26,-




Strömung

GRM
Sibylle Berg
Kiepenheuer & Witsch GmbH
Taschenbuch, 633 Seiten
ISBN 978-3-4620-0020-7
Euro 14,-