Heidelberg – Lovely Literaturstadt, lese, liebe, lausche

Heidelberg, die Stadt der Romantik, der ältesten deutschen Universität und der Literatur. Vielleicht wussten Sie Letzteres gar nicht? Doch seit 2014 ist Heidelberg UNESCO Literaturstadt, genau wie Melbourne oder Bagdad. An jeder Ecke gibt es in der Stadt am Neckar Verlage und Antiquariate, pro 10.000 Einwohner:innen die hohe Dichte von 1,5 Buchhandlungen. Autoren- und Übersetzervereinigungen, studentische Literaturkreise, Book Clubs sowie offizielle Literatur- und Theaterfestivals bringen zu jeder Jahreszeit frischen Wind zwischen die alten Mauern der Stadt. Lassen Sie sich von der Autorin und Heidelberg-Kennerin Katja Edelmann durch eine der schönsten Städte der Welt führen!



Ich nehme Sie mit auf einen literarischen Spaziergang durch »mein Heidelberg«: Als Autorin suche und besuche ich hier Glücksorte, schreibe darüber Bücher und Quizze. Und als Quereinsteiger-Bibliothekarin helfe ich Menschen, die auf der Suche sind nach einem Krimi-Hörbuch für den Urlaub in der Provence, nach der Biografie über Kaiser Marc Aurèl oder nach Romanen, die in Heidelberg spielen – wie etwa der Bestseller »Stay away from Gretchen« von Susanne Abel. Und zwar an einer der zentralen Adressen, wenn es um Bücher geht: in der Stadtbücherei an der Poststraße im Stadtteil Bergheim. Inmitten von 220.000 Medien erstelle ich für die Bibliotheksinteressierten Newsletter- und Instagrambeiträge, pflege die Webseite, auf der sich Heidelberger Autorinnen und Autoren von A bis Z digital »versammeln« oder kündige die monatliche LESEZEIT an. Hier wird gemeinsam mit der Initiative Preis der Heidelberger Autor:innen jedes Jahr der gleichnamige Preis ausgelobt. 2021 zum Beispiel wurde der Nachwuchspoet Safak Saricicek Preisträger, aber auch die Romanautorinnen Julia von Lucadou und Minu Tizabi tragen die Geschichten der jungen Generation aus ihrer Geburtsstadt Heidelberg in die Welt.

Wenige Schritte von der Stadtbücherei entfernt befindet sich ein weiterer kultureller Anziehungspunkt: Im Literarischen Zentrum (LiZ) des Deutsch-Amerikanischen Instituts (DAI) diskutieren, präsentieren und lesen Literat:innen und internationale Intellektuelle ihre Veröffentlichungen. Literaturnobelpreisträger wie Imre Kertész oder Wole Soyinka lesen hier vor, Doris Dörrie gibt hier Schreib-Workshops und Bernhard Schlink seine Einschätzung zur deutsch-deutschen Vereinigung.



Straßen- und Studentenleben

Weiter in Richtung Altstadt wird auf meiner Lieblings-, der Fahrrad- und individuellen Ladenstraße Plöck , das Verlangen nach Süßem im kultigen Zuckerladen und der Wissensdurst in Buchhandlungen gestillt, zum Beispiel im Kinderbuchladen Murkelei, im Antiquariat Schöbel mit politischen Klassikern und kritischen Werken à la Marx und Engels oder im Reisebuchladen auf der benachbarten Kettengasse. Bis zum Neckar und zum Bahnhof Altstadt ist man im Labyrinth der schnuckeliger Altstadtgassen und Häusern mit schiefen Türen, fröhlich-bunt gestrichenen Fensterläden und roten Geranien vor Schönheit gefangen. In dieser Umgebung kommen während des Literaturfestivals FeeLit, dem internationalen Heidelberger Literaturfestival, im Sommer rund um das Spiegelzelt am Universitätsplatz Autor:innen und Publikum aus aller Herren und Damen Länder zusammen. Man lauscht den Geschichten, fläzt sich in die Sitzsäcke, beobachtet das Treiben. In Nachbarschaft zur Alten Universität kann man sich zudem in alte Studentenzeiten zurückversetzen: Im Studentenkarzer, in dem bis 1914 aufmüpfige Studenten stundenweise oder einige Tage eingesperrt wurden, liest man die damals eingeritzten und gemalten Botschaften der nächtlichen Ruhestörer oder Ungehorsamen an den Wänden wie heute etwa in Graphic Novels oder Poetry Slams. Mehr Mitbestimmung erleben die heutigen Germanistik-Student:innen heutzutage jedenfalls, wenn der Clemens-Brentano-Preis für Literatur der Stadt Heidelberg vergeben wird: Sie sind neben Literaturkritiker:innen Teil der Fachjury. 2023 feiert der Preis, der abwechselnd für Erzählung, Essay, Roman und Lyrik ausgeschrieben wird, sein 30. Jubiläum. Überhaupt sind Student:innen in Heidelberg auch aktiv in den Literaturkreisen Echolot und KAMINA aktiv. Zu den berühmtesten Heidelberger Student:innen und Literat:innen zählen Saša Stanišić (siehe S. 38), der für sein Buch »Herkunft« den Deutschen Buchpreis erhielt, oder Rafik Schami, der unter anderem Erzählungen aus seiner syrischen Heimat und sein Leben als Migrant in Deutschland unter dem Titel »Der Kameltreiber von Heidelberg« oder »Erzähler der Nacht« berühmt wurde.



Pause mit Prinzessin

Beschwingt vom Hier und Jetzt geht man zum Kornmarkt und fährt mit der Bergbahn bis zur Mittelstation Schloss. Wie mit einem Zeitreisekoffer wechselt man wie jährlich eine Million Tourist:innen das Jahrhundert und begibt sich zum Heidelberger Schloss. Im prächtigen barocken Schlossgarten flaniert man wie vor über 300 Jahren die berühmte Heidelberger Prinzessin Liselotte von der Pfalz, die 1652 hier geboren wurde. Zum Verweilen lohnt es sich, mit Freund:innen das Heimat-Quiz Heidelberg zu spielen oder ein Buch zur Hand zu haben. Was könnte besser passen als die »Briefe der Liselotte von der Pfalz«, in denen sie ihr späteres Leben am Hof von Ludwig XIV. in Paris beschreibt und mit Heidelberg vergleicht. Sie wurde mit dem Bruder des Sonnenkönigs verheiratet, der später im Erbfolgekrieg ihr Heimatschloss sowie die gesamte Kurpfalz und Pfalz zerstörte. Das Ergebnis ist bis heute als Schlossruine sichtbar und wurde später zum Symbol der deutschen Romantik. Wie eine Diva thront das Schloss über dem Neckartal. Die romantischen Dichter Achim von Arnim, Clemens Brentano, Joseph von Eichendorff sowie Friedrich Hölderlin bewunderten, beschrieben und bewahrten sie in Liedern und Gedichten für immer. Auch im Inneren konserviert die Schlossruine Schätze wie das größte Weinfass der Welt oder exotische Arznei wie das »Einhornpulver«. Bei einer Schlossführung oder beim Besuch des Apothekenmuseums inklusive Führung durch den duftenden, blühenden Apothekengarten an der Schlossmauer kann man sie mit Augen, Ohren und Nase erleben.

Nach so viel Kultur kann man eine »grüne« Pause in der Natur brauchen: Gemütliche nehmen die Bergbahn bis zur Bergstation auf dem Königstuhl, Sportliche steigen über die »Himmelsleiter« viele hundert schiefe Stufen durch dichtes Grün hinauf zum 550 Meter hohen Aussichtspunkt. Von oben erhascht man einen herrlichen Blick in westliche Richtung über die Rheinebene und zum Pfälzerwald. Wer es noch naturbelassener hat, nimmt ab dem Schloss den Bus 30 bis zur Haltestelle Blockhaus und ist umgeben vom Grün des Heidelberger Stadtwaldes . Bänke am Arboretum mit Rhododendronanlage, an den Mammutbäumen oder an der Sprunghöhe laden dazu ein, ein Buch zu lesen oder dem Vogelgezwitscher zu lauschen. »Verweile doch, du bist so schön«, möchte man Goethe hier zitieren, auch wenn der von Heidelberg faszinierte Schriftsteller die Aussage in Faust II in einem gänzlich anderen Zusammenhang meinte.



Unsere Lieblingsorte

Sofie Morin

Mein liebster Platz in Heidelberg ist das Dazwischen. Zwischen den Stadtteilen auf einer Brücke, wo ich auf meinem Rad plötzlich den Duft des Neckars in der Nase habe. Vielleicht bleibe ich stehen, um meine Eindrücke auf dem Wasserglitzern schwimmen zu lassen. Zwischen meiner Heimatstadt, die Wien ist, und der Wahlheimat, die mir Heidelberg geworden ist, wo ich mich unversehens eingelebt habe. »Zeig mir Dein Heidelberg!« habe ich jahrelang Menschen gebeten, denen ich zutraute, ihr Heidelberg zu haben. Denn in einer Stadt zu leben, heißt ja immer auch, sich an ihren Wahrzeichen abzuarbeiten und sich eigene zu suchen. Etwas zwischen Touri-Kitsch und Vereinnahmung, in dem es sich zuhause sein lässt. Für mich sind das nicht selten Kaffeehäuser. Zwischen Beruf und Kindern finde ich dort Zeit, um zu lesen und zu schreiben. Inmitten des besteckklirrenden Treibens, Geflatters wie von Spatzen, theatralischen Posierens, und federleichten Plauderns, träume ich zuweilen von manchen, die vor mir hier waren, wie Sophie Mereau, Hannah Arendt, Hilde Domin, Judith Butler ... Zuletzt hat eine Frage vom Nachbartisch mein Sinnieren jäh unterbrochen: Welche Orte ich in der Literaturstadt Heidelberg denn empfehlen könne. »Ganz egal, wohin Sie gehen«, habe ich geantwortet, »alles hier ist noch sandsteinwarm wie von einer kürzlichen Anwesenheit, alles hier will beschrieben werden. Lassen Sie sich zwischenzeitlich möglichst absichtslos treiben, dann wird die Poesie dieser Stadt Sie unweigerlich finden.«


Sofie Morin ist das lyrische Pseudonym der aus Wien stammenden und in Heidelberg lebenden Autorin und Philosophin Sophie Steinfest. Sie hat Studienabschlüsse in Biologie und Philosophie, machte eine Ausbildung in Gestaltpsychotherapie und arbeitete unter anderem im Europäischen Parlament.

Rainer Kern

Geboren und aufgewachsen in Mannheim, lebe ich nun schon seit vielen Jahren in Heidelberg. Die Region und ihre Menschen sind für mich neben meiner Familie wichtige Ankerpunkte, da ich beruflich sehr viel international reise. Wenn ich an einem Samstag dann doch mal zuhause bin, bin ich auf jeden Fall an einem Ort – dem Musikzimmer in der Unteren Straße in Heidelberg. In diesem kleinen und feinen Plattenladen kann ich Stunden zubringen: mit dem Stöbern durch die Neuerscheinungen, dem Hören alter Schätze, dem Gespräch mit dem kenntnisreichen Inhaber László Fehér oder mit anderen Kund:innen, die ich dort treffe. Uns alle eint die unbändige Liebe zur Musik. Und neben den vielen, vielen Live-Konzerten, die ich sehen darf, sind es vor allem Orte wie das Musikzimmer, die mich immer wieder spüren lassen, dass ich in der glücklichen Lage bin, meine Leidenschaft zum Beruf gemacht zu haben.


Rainer Kern ist Gründer und Leiter des größten deutschen Jazzfestivals »Enjoy Jazz«. Im Herbst eines jeden Jahres findet dies über mehrere Wochen in der Metropolregion Rhein-Neckar, vornehmlich in den Städten Heidelberg, Mannheim und Ludwigshafen statt. 2023 feiert Enjoy Jazz sein 25-jähriges Bestehen. www.enjoyjazz.de.

Ingrid Noll

Mein Leben lang war ich eine begeisterte Museumsbesucherin. Da ich in Weinheim wohne, liegt das Heidelberger Kurpfälzische Museum vor meiner Haustür – und ich liebe es, dort immer wieder wie in ein vertrautes Elternhaus einzukehren. Ein Spaziergang durch die Altstadt bis zum Museum mit einer aktuellen Ausstellung, das ist für mich der Höhepunkt eines schönen Tages. Das Museum ist in einem barocken Palais aus rotem Sandstein untergebracht und schon rein äußerlich eine Augenweide. Und natürlich muss ich nicht nur die jeweiligen Exponate, sondern immer auch meine alten Freunde im Museum begrüßen, zum Beispiel den Riemenschneider-Altar, die romantischen Bilder vom Schloss oder die Gemälde berühmter Maler wie Slevogt und Schmidt-Rottluff. Abgesehen von meiner Leidenschaft für die Sammlungen bin ich auch ein großer Fan von Museumsshops. Hier finde ich immer etwas für meine Geschenke-Vorratsschublade, zum Beispiel ein edles Glas. Außerdem sammle ich Kunstpostkarten. Obwohl ich schon sehr viele besitze, werde ich in Heidelberg immer wieder fündig und glücklich. Um alle Eindrücke noch an Ort und Stelle zu vertiefen, setze ich mich im Sommer gern in den Museumsgarten. Hier ist es beschaulich und ruhig, die laute Welt ist ausgesperrt. Dafür lausche ich dem Plätschern des Springbrunnens, betrachte die gekauften Kunstkarten und genieße Kaffee und Kuchen.


Ingrid Noll, geboren 1935 in Shanghai, studierte in Bonn Germanistik und Kunstgeschichte. Sie gilt als eine der erfolgreichsten deutschen Krimi-Autoren. Nachdem die Kinder das Haus verlassen hatten, begann sie Kriminalgeschichten zu schreiben, die allesamt zu Bestsellern wurden. 2005 erhielt sie den Friedrich-Glauser-Ehrenpreis der Autor:innen für ihr Gesamtwerk.

Martin Kordić

Denke ich an Heidelberg, denke ich an die Linie 5 von Mannheim nach Heidelberg. Blühender Löwenzahn an der Haltestelle, frühlingswarme Straßenbahnluft, ich bin sechzehn Jahre alt und habe einen besten Freund. Zahllose Freitage schubsen wir uns nach Schulschluss in die Linie 5 nach Heidelberg. Wir fühlen uns sehr erwachsen. Aus den zerkratzten Fenstern heraus suchen unsere Blicke nach Graffitis auf vorbeifahrenden Regionalbahnen, auf Trafostatio-nen und Mauern, wir suchen Zusammenhänge, setzen die Spuren der Sprüher zu Freundschaften, Feindschaften und Nächten zusammen. In Heidelberg haben wir zwei Anlaufstationen. Das »Vinyl Only« und das »The Flame«. Dort gibt es Schallplatten, Sneaker und Sprühdosen. Alles zu teuer, wir gucken nur. Wir gucken und träumen. Wir träumen von Kunst, von Malerei, von Musik, von Sprache und Geschichten. Obwohl wir nichts kaufen, spricht man mit uns. Obwohl wir am Abend wieder zurück nach Mannheim fahren, fühlt es sich jedes Mal an wie ein Aufbruch.


Martin Kordić, geboren 1983 in Celle, wuchs in Mannheim auf. Er studierte in Hildesheim und Zagreb und arbeitet als Lektor in Buchverlagen. Sein Debütroman »Wie ich mir das Glück vorstelle« sowie der 2022 erschienene zweite Roman »Jahre mit Martha« erhielten diverse Auszeichnungen.

Saša Stanišić

Im Sommer 1993 erzählte ich meinen Heidelberger Freunden, ich würde in den Sommerferien nach Helgoland fahren. Das war nicht die Wahrheit. Die Wahrheit war, dass ich in den Sommerferien nirgendwohin fahren würde. Meine Freunde, die würden wegfahren: in die Türkei zu den Großtanten, nach Mallorca, nach Rimini. Meine Familie konnte gerade so die Miete stemmen. Eigentlich machte es mir nichts aus, in Heidelberg zu sein, ich schämte mich aber, in Heidelberg sein zu müssen. Und warum Helgoland? Weil der Name verlockend klang und das, was ich über die Insel wusste, märchenhaft: ein roter Felsen, wieder und wieder von der Nordsee geohrfeigt und gestreichelt, seltene Vögel und Heinrich Heine, der da mal gebadet hatte und geschrieben, die See würde nach frischgebackenem Kuchen riechen. Der Sommer 1993 roch für mich nach Moos, Mücken und Waldschatten. Ich verbrachte zwei Wochen fast durchgehend in einem Hochsitz im Wald oberhalb meines Viertels. Nur zum Schlafen ging ich nach Hause und um Wasser zu holen zu dem nahen Schweinsbrunnen. Niemand, außer den Eltern, sollte wissen, dass ich in der Gegenwart der Stadt existierte, der Hochsitz war das perfekte Versteck. Dort las ich, aß Butterbrote, starrte einen Specht an und der starrte zurück. Aus der Bücherei hatte ich vor meinem »Urlaub« alles über Helgoland ausgeliehen, was dort zu finden war; ich wollte vorbereitet sein, sollte jemand später Fragen stellen. Ich glaube, in jenem Sommer und auf diesem Hochsitz bin ich Schriftsteller geworden mit einer Geschichte von einem ausgedachten Selbst auf einer ausgedachten Insel. Ich verbrachte die Zeit in einem Mischwald in der Kurpfalz und auf einer Insel in der Nordsee. Ich sah einem Fuchs beim Spielen zu und lernte ein Mädchen kennenlernen mit dem schönen norddeutschen Namen »Stientje«. Ich las Heine und badete an der Stelle, wo Heinrich Heine (vielleicht) gebadet hat. Ich freundete mich mit dem Specht an, fütterte ihn, auf den Lummenfelsen beobachtete ich den Basstölpel. Stahl abenteuerlich ein Kneipenschild, lenkte ein Börteboot durch die See (die nicht nach frischgebackenem Kuchen roch). Ich saß auf dem Hochsitz und tagträumte mich auf eine Insel aus Geschichten, die ich niemals erleben würde – und auch niemals erzählen, denn es fragte niemals jemand danach. Die Erinnerungen blieben. Auch der Hochsitz ist geblieben. 2019 kletterte ich zuletzt hinauf. Ein Specht unterbrach seine Klopfsymphonie, um Hallo zu sagen, kam unerschrocken an die Fensteröffnung. Ein Nachfahr eines Lebens vielleicht, aus dessen jugendlicher Dämmerung ich zu erfinden begann, was sein könnte und wer ich.


Saša Stanišić, geboren 1978 in Višegrad (Jugoslawien) lebt seit 1992 in Deutschland. Seine Erzählungen und Romane wurden in über 30 Sprachen übersetzt und vielfach ausgezeichnet. Saša Stanišić erhielt u.a. den Preis der Leipziger Buchmesse für »Vor dem Fest« und zuletzt für »Herkunft« den Deutschen Buchpreis 2019 sowie den Eichendorff-Literaturpreis und den Hans-Fallada-Preis der Stadt Neumünster. Er lebt und arbeitet in der Hansestadt Hamburg.



Verändern und bewahren

Von hier aus gelangt man auf rund 3,6 Kilometer Waldweg sowie den Steigerweg und vorbei am prominenten Bergfriedhof in weniger als einer Stunde hinab in Heidelbergs Südstadt. Seit dem Abzug der US-Armee im letzten Jahrzehnt werden leerstehende Kasernen und Wohngebäude renoviert und für neue Zwecke umgewandelt. Typisch für Heidelberg haben hier neben Wohnraum für Familien und Student:innen auch Kultureinrichtungen einen neuen Standort gefunden: 2022 ist der Karlstorbahnhof vom Neckar »in den Süden« an den Marlene-Dietrich-Platz gezogen und präsentiert im modernen Neubau eine breite Palette an Kulturveranstaltungen von Kino über Lesungen, Poetry Slams bis zu Comedy- und dem Queer Festival. Nicht weit entfernt hat der Mark-Twain-Center für transatlantische Beziehungen ebenfalls 2022 seine Pforten für interkulturellen und wissenschaftlichen Dialog geöffnet. Schließlich war der Namensgeber vor rund 150 Jahren bei seinem »Bummel durch Europa« auf dem Neckar unterwegs und nahm die Deutschen etwas aufs Korn, nachzulesen in seinem satirischen Buch »A Tramp Abroad«.

Nun ist es Zeit, die Stadt am Neckar von der anderen Seite, also vom anderen Ufer zu erkunden: Von der Südstadt geht es entweder eine Stunde spazierend oder mit der Straßenbahnlinie 24 über die beschauliche Weststadt, die Neckarbrücke und das wissenschaftlich genutzte Neuenheimer Feld, wo neben Feldern, Äckern und Landwirtschaft seit 30 Jahren Universitätskliniken und Forschungseinrichtungen angesiedelt sind, zum ältesten Stadtteil Heidelbergs: nach Handschuhsheim . Eigentlich ist »Hendesse«, wie der 1903 eingemeindete Stadtteil im lokalen Dialekt genannt wird, älter als Heidelberg selbst. Bereits 500 v. Chr. siedelten Kelten hier, 765 wurde das Dorf erstmals urkundlich erwähnt – darauf sind die Bewohner:innen stolz. Zentrum sind die Tiefburg mit ihren acht Meter tiefgehenden Mauern, davor der quirlige Marktplatz mit seinen Cafés sowie der benachbarte Grahampark. In den Höfen der dörflichen Häuser wachsen Kiwis und Trauben als natürliche Dächer.



Philosophieren und chillen

Philosophieren und chillen Von hier aus lohnt sich ein weiterer Aufstieg auf den Heiligenberg, der gegenüber vom Königstuhl der zweite Hausberg Heidelbergs am Neckarufer ist. Wer hoch hinauf will, sollte die Thingstätte oder die Ruine des Michaelisklosters mitten im Wald ansteuern. Auf mittlerer Höhe am Heiligenberg jedoch erreicht man ein weltbekanntes Ziel, das schon Brentano, von Arnim und Eichendorff schätzten: den Philosophenweg.

»In dieser Märchen Bann verzaubert stehen Die Wandrer still. – Zieh weiter, wer da kann! So hatten sie’s in Träumen wohl gesehen, und jeden blickts wie seine Heimat an, und keinem hat der Zauber noch gelogen denn Heidelberg wars, wo sie eingezogen«

schrieb der Jurastudent von Eichendorff rückblickend über sein Semester in Heidelberg. Am Philosophengarten summen die Bienen, sinnieren die Philosoph:innen, sonnen sich die Student:innen – heute wie vor 200 Jahren. Man steigt (zum Beispiel über den Schlangenweg) hinab zum Neckarufer bis an die Theodor-Heuss-Brücke, wo das das Beste – bekanntlich zum Schluss – kommt: der Bootsverleih am Neckar. Der Tag ist vorangeschritten, die Sonne steht auf Position, um hinter der nächsten Brücke flussabwärts im Westen bei Mannheim »in den Neckar zu plumpsen«. Dieses Schauspiel kann entweder vom Ruder- oder Tretboot aus oder von einem der chilligen Neckarorte mit den Füßen im aufgeschütteten Sand oder Feierabendbier in der Hand am besten genießen – und währenddessen schon den nächsten Abstecher vorbereiten: zur Bundesgartenschau BUGA23 im nahegelegenen Mannheim, oder einen Ausflug nach Mannheim, wo Blumen sprießen und so mancher Krimi spielt. Alla hopp!