
„Wir müssen keine Hoffnung haben, wir müssen sie sein.“
Wir sprachen mit der dreifachen Literaturpreisträgerin und Poetry-Slammerin Clara Lösel über ihre kraftvollen Gedichte, die von Liebeskummer bis Politik reichen, sowie über ihr Buch „Wehe, du gibst auf“.
Liebe Clara, Dein Buch trägt den Titel „Wehe, du gibst auf“. Gab es einen Moment in Deinem Leben, in dem Du fast aufgegeben hättest – und was hat Dich weitermachen lassen?
Man kann viele Sachen aufgeben: Träume, andere Menschen, sich selbst oder die Hoffnung. Ich glaube, es ist nicht immer das große Aufgeben, es ist oft das kleine. Es ist das Aufgeben, das nach außen nicht sichtbar ist. Still und heimlich gibt man die Liebe auf oder ein großes Ziel oder die Hoffnung darauf, dass alles besser wird. Die Hoffnung geben, glaube ich, gerade besonders viele Leute auf. An manchen Tagen, an denen die Welt besonders dunkel scheint oder besonders viel Hass in meinem Postfach liegt, bin ich auch kurz davor. Darüber, wie und wo ich die Hoffnung suche, ist ein ganzer Text im Buch. Darin schreibe ich auch: Wir müssen keine Hoffnung haben, wir müssen sie sein.
Du schreibst über Selbstliebe, Unsicherheiten und gesellschaftlichen Druck. Was war Dein persönlicher Weg zu mehr Selbstakzeptanz?
Viel davon habe ich tatsächlich dem Schreiben zu verdanken. Dass ich für so viele hunderttausende Menschen schreibe, gibt mir das Gefühl, dass ich einen Sinn habe auf dieser Welt. Außerdem: Selbstakzeptanz bedeutet ja, dass man sich selbst mit all seinen Fehlern und Grenzen und Stärken akzeptiert, und über viele Sachen, die mir an mir, an anderen und an der Gesellschaft nicht gefallen, habe ich geschrieben. Ich glaube, wirklich schädlich ist es nur, wenn man Scham Überhand nehmen lässt. So viele Dinge sind in unserer Gesellschaft immer noch Tabus. Sachen, über die „man“ nicht spricht. Ein Freund hat mal gesagt: Wo Scham ist, soll Stolz wachsen. Es gibt nichts, was einem peinlich sein muss, außer ein beschissener Charakter. Das ist meine Meinung. Über alles andere kann man sprechen. Deshalb schreibe ich über diese Themen: über Einsamkeit, über Angst und Hoffnungslosigkeit, über Tier- und Umweltschutz, über Liebe und Liebeskummer, über Frausein, über Hasskommentare, die ich bekomme … Ich versuche das zu sagen, was sich viele nicht trauen, Clartext zu sprechen – und in allem immer etwas Gutes zu finden. Denn versprochen, es ist immer da.

Was hat Dich als junge Autorin geprägt – gab es ein Buch, eine Begegnung oder einen Ort, der Dich besonders inspiriert hat?
Ein Mensch: mein Opa im Himmel. Mein Opa hat sich früher immer Geschichten ausgedacht und sie mir und meinem Bruder erzählt. Das sind bis heute einige meiner schönsten Kindheitserinnerungen. Mein Opa ist als Kind geflohen und hat sein ganzes Leben in einem kleinen Dorf gelebt – er hatte nie die Möglichkeit, ein Buch zu schreiben. 2019 ist er an Krebs gestorben. Ich glaube, dass an ihm ein wundervoller Autor verloren gegangen ist. Deswegen steht er, gemeinsam mit meiner Oma, auch in der Widmung des Buches.
Wie wichtig sind Dir unabhängige Buchhandlungen? Hast Du eine Lieblingsbuchhandlung, in der Du selbst gerne stöberst?
Buchhandlungen sind meine liebsten Orte auf der Welt. Wenn ich schreibe oder lerne, gehe ich fast immer in Bibliotheken. Wenn ich im Urlaub bin, google ich nach den schönsten Buchhandlungen der Stadt. Wenn in einem Raum Bücher stehen, fühle ich mich immer wohler. Es ist so ein besonderes Gefühl, von Büchern umgeben zu sein. Besonders kleine Buchhandlungen liebe ich, ich könnte stundenlang darin stöbern. Sie fühlen sich ein bisschen so an, als würde man aus dieser schnellen und lauten Welt da draußen entfliehen und eine kleine Weile in einer anderen Welt verbringen.
Viele Deiner Leser*innen entdecken Deine Texte über Social Media. Was kann ein gedrucktes Buch, das ein Instagram-Post nicht kann?
Das Anfassen, das fehlt einfach. Der Geruch von Papier, das Rascheln der Seiten. Das kennt doch jeder von uns: Es ist ein riesiger Unterschied, ob man sein Handy oder ein Buch in der Hand hält. Ein Buch in den Händen fühlt sich direkt wie Ruhe und Entschleunigung an.
Was bedeutet es Dir, Dein Werk live vor Publikum zu präsentieren?
Ich bin ja durch Social Media geradezu über Nacht bekannt geworden. Innerhalb von 6 Monaten folgten mir auf einmal 150.000 Menschen. Ich bin Social Media dafür sehr dankbar, aber nichts ist vergleichbar damit, mit Menschen in einem Raum zu sein. Diese ganzen Zahlen auf dem Handy sind für mich surreal: Ich erreiche Millionen Menschen im Monat, dabei kann ich mir nicht mal 5.000 vorstellen. Wenn ich zu lange auf Social Media bin, vergesse ich, warum ich das alles mache. Denn ich schreibe ja nicht nur für mich, dann könnte ich auch Tagebuch schreiben, ich schreibe für andere Menschen, in der Hoffnung, dass sie sich durch die Texte verstanden, inspiriert und motiviert fühlen. Die Kurzantwort wäre: Es bedeutet mir die Welt.

Du gehst mit Jugendlichen auf Entdeckungsreise in die Welt der Worte. Was war das schönste Feedback, das Du je bekommen hast?
Ich habe inzwischen drei Literaturpreise gewonnen – aber über keinen habe ich mich so gefreut, wie über ein Feedback von einer Person, die mir sagt, dass meine Texte einen echten Unterschied in ihrem Leben machen. Ich habe einen Ordner, in dem ich die schönsten Nachrichten sammle, die ich je bekommen habe.
Hier einige, die mich derzeit sehr berühren:
- Deine Texte haben mir durch meine Chemotherapie/Depression/Trennung geholfen.
- Dank dir hab‘ ich es geschafft, dieser Person zu sagen, dass ich sie mag.
- Darf ich deinen Text für eine Beerdigung/eine Predigt/meine Hochzeit nutzen?
- Wegen dir habe ich auch angefangen zu schreiben.
Apropos junge Menschen: Ich habe übrigens vor, dieses Jahr auch auf Schultour zu gehen, und freue mich unfassbar darauf!
Welche Rolle spielen Poesie und Literatur für junge Menschen heute?
Die traurige Antwort ist vermutlich: Kaum eine. Studien zeigen, dass Schüler Deutsch hassen, dass junge Menschen kaum noch lesen, geschweige denn Gedichte. Aber die jungen Menschen auf Social Media zeigen mir auch jeden Tag: Es kommt darauf an. In der Schule werden oft Jahrhunderte alte Gedichte in unverständlicher Sprache über lebensferne Themen und fast ausschließlich von Männern gelesen. Als ich angefangen habe, Gedichte im Internet zu posten, hab‘ ich deshalb gedacht, dass das die junge Zielgruppe niemals interessieren wird. Aber sie haben mir das Gegenteil bewiesen. Eins der größten Komplimente ist für mich bis heute: „Mag wirklich keine Gedichte, aber das war gerade echt gut, hab‘ Gänsehaut.“ Junge Menschen sind nicht verschlossen oder uninteressiert, die Dinge müssen nur einfach anders gemacht werden als vor hundert Jahren. Manchmal sehe ich, dass Lehrer_innen meine Texte mit ihren Schüler_innen im Unterricht behandeln. Das ist wirklich die größte Freude überhaupt.
Was ist das Schwierigste an Deiner Arbeit?
Ich musste schon schreckliche Dinge hören: dass ich mich umbringen soll, dass ich als Frau keine Ahnung habe, dass ich vergewaltigt oder geschlagen werden sollte, dass meine Stirn zu groß ist, dass ich zu bestimmten Sachen nichts sagen soll. Das natürlich alles nicht in mein Gesicht, sondern als Nachricht in Social Media. Ich habe dann manchmal Angst, etwas zu sagen oder mein Handy zu öffnen, aber ich bin fest davon überzeugt, dass wir in diesen Zeiten unbedingt laut sein und für Werte einstehen müssen, deshalb mache ich das trotzdem weiter und habe mich bis heute nicht unterkriegen lassen.
Was wünschst Du Dir für den Literaturbetrieb, für die Buchbranche der Zukunft?
Ich wünsche mir, dass er wieder aufblüht. Worte sind (gemeinsam mit Taten) die mächtigste und wunderschönste Sache der Welt.
Wenn Du einem Menschen, der sich noch nie mit Poesie beschäftigt hat, Dein Buch schmackhaft machen müsstest – wie würdest Du es in einem Satz tun?
Wie es im Untertitel steht: Ein Buch, das dein Denken verändert. Ich glaube nämlich, dass Worte nicht nur Worte bleiben (müssen und dürfen), ich glaube, dass sie zu Gedanken werden und Gedanken zu Taten. Und deshalb können Worte die Welt verändern, wenn wir sie richtig verwenden.
Was liebst Du am meisten an Deiner Arbeit?
Ich bin jeden Tag dankbar, dass wir hier Meinungsfreiheit haben. Ich sage oft Sachen, für die ich in anderen Ländern verhaftet werden würde. Gleichzeitig glaube ich: Dadurch, dass wir dieses Privileg haben, müssen wir es nutzen und darum kämpfen.
Und zum Schluss: Gibt es ein Zitat aus Deinem Buch, das Dir besonders am Herzen liegt?
Und was wir nie vergessen dürfen, egal was ist, ist Mensch zu sein: Unsere höchste Menschenpflicht ist immer unsere Menschlichkeit.