Uwe Wittstocks "Marseille 1940"

23.04.2024

Hoffnung in unmenschlichen Zeiten

Uwe Wittstock über die bewegendste Geschichte, auf die er bei den Recherchen für sein Buch »Marseille 1940« gestoßen ist

AUF DER FLUCHT VOR HITLER ‒ ALS DIE SCHRIFTSTELLER EUROPA VERLIEßEN Juni 1940: Hitlers Wehrmacht hat Frankreich besiegt. Es ist das dramatischste Jahr der deutschen Literaturgeschichte. In Nizza lauscht Heinrich Mann bei Bombenalarm den Nachrichten von Radio London. Anna Seghers flieht mit ihren Kindern zu Fuß aus Paris. Lion Feuchtwanger sitzt in einem französischen Internierungslager gefangen, während die SS-Einheiten näherrücken. Sie alle geraten schließlich nach Marseille, um von dort einen Weg in die Freiheit zu suchen. Hier kreuzen sich die Wege zahlreicher deutscher und österreichischer Schriftsteller, Intellektueller, Künstler. Und hier riskieren Varian Fry und seine Mitstreiter Leib und Leben, um die Verfolgten außer Landes zu schmuggeln.

Szenisch dicht und feinfühlig erzählt Uwe Wittstock von unfassbarem Mut und größter Verzweiflung, von trotziger Hoffnung und Mitmenschlichkeit in düsterer Zeit.

Lesungen aus “Marseille1940” und Fotoschau finden Sie auf http://uwe-wittstock.de/termine

Der Mut der Schriftstellerin Anna Seghers

Jeden Autor verlässt beim Schreiben eines Buches zwischendurch mal der Mut weiterzumachen. Wenn mir das beim Schreiben von »Marseille 1940« passiert ist, habe ich daran gedacht, wie sich die große Schriftstellerin Anna Seghers in dem Jahr gefühlt haben muss, von der mein Buch erzählt. Sie war Jüdin und 1933 mit ihren beiden Kindern vor Hitler nach Paris geflohen.

Doch dann, im Mai 1940, greift die deutsche Wehrmacht Frankreich an und stürmt von Sieg zu Sieg. Schon am 10. Juni stehen deutsche Panzer kurz vor Paris und kommen rasend schnell näher. Also packt Anna Seghers das Notwendigste für sich, die 12-jährige Ruth und den 14-jährigen Peter. Und da sie keinen Zug bekommen, fliehen sie zu Fuß.

Was hätten sie sonst auch tun sollen? Wenn die Deutschen sie erwischen, wird man sie in ein KZ bringen und das wäre auch für die Kinder das Todesurteil.

Fünf Tage lang laufen sie oder fahren als blinde Passagiere auf einem entsetzlich langsamen Güterzug mit. In der sechsten Nacht hört Anna Seghers plötzlich Rufe aus dem Dunkel, sie müsse sofort fliehen, die deutschen Panzer können jeden Moment da sein. Sie rüttelt die Kinder wach, sie sollen alles liegen lassen und mit ihr loslaufen. Jetzt zählt nur noch, wegzukommen. Als es hell wird, haben sie 25 Kilometer geschafft.

Am Abend sind die Kinder total erschöpft. In einem Dorf finden sie ein leeres Haus, nur die Betten sind noch da. Alle drei fallen auf die nackten Matratzen und sind sofort eingeschlafen. Am nächsten Morgen besetzen deutsche Truppen das Dorf und durchsuchen jedes Haus. Da nimmt Anna Seghers all ihren Mut zusammen, spricht nur französisch mit den Soldaten und tut so, als würde sie kein Deutsch verstehen. Und da geschieht das kleine Wunder: Die Soldaten zucken mit den Schultern und lassen sie und die Kinder vorerst ungeschoren.

Wenn ich Mut brauchte, um beim Schreiben durchzuhalten, habe ich an diesen Mut von Anna Seghers gedacht, die nicht aufgab und am Ende ihre Kinder und sich selbst gerettet hat.

Marseille 1940